Konzertfilm und Popular Music
Konzertfilm und Popular Music – Das Direct Cinema
In den frühen 60iger Jahren bildet sich ein neuer Stil in der filmischen Darstellung des etablierten Genre der Konzertfilme heraus – das Direct Cinema, dass nicht mehr nur auf die „perfekte“ Bilddokumentation abzielt, sondern die „Direktheit der Bilder“ fokussiert. Dabei stellt es die Persönlichkeit des Leadsängers in den Vordergrund.
Alan Pennebaker, ein Dokumentarfilmer, ist Anfang der 60iger Jahre einer der prominentesten Vertreter des „neuen“ Direct Cinema und hatte bereits eine Konzerttour von Bob Dylan nach England (1965) „dokumentiert“. Dieser sog. „Rockumentary“ mit dem Titel „Don´t Look Back“ initiiert die neue mediale bzw. filmische Repräsentationsform innerhalb des dokumentarischen und biographischen Films.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist der biographische Film das zentrale Element des Dokumentarfilms. Während der biographische Film traditionell versucht die private Sphäre des Dokumentierten auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit zu beziehen, entwickelt das Direct Cinema nun mithilfe neuer Filmtechniken und einer neuen Form der Repräsentation, „direkte Bilder“, die auf eine neuartige Weise filmisch dokumentiert werden. Die bis dahin vorherrschende Form des Dokumentarfilms ist der sogenannte „Erklärdokumentarismus“.
Je nach Ansatz entwickeln sich vor allem folgende Richtungen: das Direct Cinema in den USA, das Cinéma Vérité in Frankreich. Während das amerikanische Direct Cinema versucht, reales Geschehen aufzuzeichnen, ohne darauf in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, nämlich „life as it is“ zu filmen, verfolgt das französische Cinéma Vérité diesen Anspruch nicht, sondern versucht im Gegenteil mit den gefilmten Personen in Kontakt zu treten und dadurch eine offene Interaktion zwischen Filmemacher und den sozialen Akteuren entstehen zu lassen oder sogar die Situationen zu provozieren.
Neue Technik
Die neue Filmausrüstung setzt sich aus einer ganzen Reihe von technischen Erfindungen zusammen: den extrem leisen 16mm-Handkameras, die nun ohne sperriges Schutzgehäuse verwendet werden kann (Steady Cam), dem schweizer Tonbandgerät NAGRA, neuem hochempfindlichen Filmmaterial, das Aufnahmen ohne künstliches Licht ermöglicht, sowie dem Zoomobjektiv, das schnelle Ausschnittänderungen ohne zeitaufwendiges Objektivwechseln erlaubt.
Besonders Dokumentarfilmer profitieren von dieser Neuerung, da es nun möglich ist, in einer bis dahin ungekannten Flexibilität und Schnelligkeit auf das zu Filmende zu reagieren.
Die neuen Kameraausrüstungen ermöglichen die radikale Veränderungen in den
Aufnahmemethoden.
Konzept und zentraler Ansatz
Der zentrale Ansatz besteht also darin, in der filmischen Narration einen neuen Stil zu realisieren, indem man im Experimentieren eine „außerfilmische Authentizität“ und „subjektive Beteiligung“ (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.)) kohärent stilisieren. Man versucht das Soziale zu erzählen, ohne die filmische Repräsentation durch die Kamerapräsenz oder einen Kommentar im Voice Over zu stören. Die dargestellten Bilder werden mit Originalton unterlegt. Die Narration soll auf einen „natürlichen Höhepunkt“ zulaufen, dass sich sozusagen aus dem Erzählten selbst erschließt und einem Handlungsbogen, der in einem finalen Abschluss kulminiert. Ohne das durch die Darstellung führende Voice Over oder den dokumentarischen Kommentar, wird der Voyeurismus des Zuschauers geradezu Politikum der filmischen Repräsentation; Partizipation und ästhetisches und authentische Erlebnis. Die Partizipation des Publikums ist also erstmals zentraler Bestandteil der Dokumentation (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.)).
Zusätzlich zu der neuen Technik, der handlichen und tragbaren Kamera, die vor Ort das unmittelbar Geschehene festhalten kann, kommt der Anspruch, die Narration und die gezeigte Dokumentation so abzudrehen, „wie sie ist“ und die Anzahl der Schnitte (Cuts) innerhalb der Szenen so gering wie möglich zu halten, um den Handlungsfluss aufrechtzuerhalten. Weiterhin setzt man auf ein Minimum an Regie - die Geschehnisse, sowohl die zur Handlung gehörenden, wie auch die sich zufällig ergebenden, abzubilden, wie sie sich ereignen.
Konzertfilme
Don´t Look Back ist der erste Musikfilm (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.). Weitere Filme, die u.a. von Pennebaker produziert werden sind 1968 Monterey Pop, 1970 Woodstock und 1970 Gimme Shelter mit den Rolling Stones.
Dabei soll vermittels der Kameraeinstellung, Kameraführung und der Montage und Bildkomposition ein enges Zusammenspiel zwischen Sänger, der Band und dem Publikum des Konzertes erzeugt werden soll, in Form der Mobilisierung des Konzertpublikums bzw. dessen direkte Einbeziehung, wobei der Sänger als entweder „Protestsänger“, „Missionar“, „Poet einer Gegenkultur“ oder „Enfant terrible“ dargestellt ist und als Hauptfigur fungiert (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.).
Filmische und ästhetisch inszenierte Filmsequenzen sind mit „close-ups“, „over-the-sholder“ und Zoom verstärkt und umgesetzt. Dabei folgt die Umsetzung auch der für die Popkultur typischen Kommunikationsform des Körpers, abgesehen vom Genre immanenten Klang.
Was nun im Genre Konzertfilm unter dem Stichwort „uncontrolled cinema“ dargestellt wird, nämlich die unvermittelte Darstellung des Geschehens und der spontanen Ereignisse einzufangen, bewahrheitet sich nun während des Drehs zu Gimme Shelter auf eine zynische Art und Weise.
Nicht nur, dass der Film nach dem Mord in die Situation am Schneidetisch springt (extradiegetisch) und Mick Jagger zeigt, der die Szene immer wieder zurückspult, sondern auch die Tatsache, dass der Film nun, indem er einen Mord dokumentiert, wird das filmisches Dokument, Gegenstand realer polizeilicher Ermittlung. Gimme Shelter „funktioniert“ als reales Beweismittel in einem Mordfall, eine eigentlich gewollte filmische Strategie – die Dokumentation authentifizierter Wirklichkeit zu dokumentierten ist nun ungewolltes authentisches Evidenzmittel.
Die filmische Strategie der unvermittelten Direktheit der Bilder – „life as it is“ geht geradezu in der tatsächlichen Realität der Darstellung einer außerfilmischen Authentizität auf.
Zynisch und ungewollt erhält die Dokumentation von Altamont auch eine kulminierten Höhepunkt, der sich ohne eines Kommentars bedürfend, aus der Handlung selbst ergibt („Narration“ bis hin zu einem „ natürlichen Höhepunkt“).
Nachtrag für den Blog vom 30.11.08:
Literaturnachweis: Edda Holl, Die Konstellation Pop. Theorie eines kulturellen Phänomens der 60er Jahre, herausgegeben von den Instituten für Theater und Medienwissenschaft der Universität Hildesheim, Medien und Theater, Band 4 (1996).
Literaturnachweis für diesen Beitrag:
Ramón Reichert, Direct Cinema, Konzertfilm und Popular Music, in: Arnold Jacobshagen, Markus Leniger (Hg.), Rebellische Musik, Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968. Musicolonia, Band 1 (2007).
In den frühen 60iger Jahren bildet sich ein neuer Stil in der filmischen Darstellung des etablierten Genre der Konzertfilme heraus – das Direct Cinema, dass nicht mehr nur auf die „perfekte“ Bilddokumentation abzielt, sondern die „Direktheit der Bilder“ fokussiert. Dabei stellt es die Persönlichkeit des Leadsängers in den Vordergrund.
Alan Pennebaker, ein Dokumentarfilmer, ist Anfang der 60iger Jahre einer der prominentesten Vertreter des „neuen“ Direct Cinema und hatte bereits eine Konzerttour von Bob Dylan nach England (1965) „dokumentiert“. Dieser sog. „Rockumentary“ mit dem Titel „Don´t Look Back“ initiiert die neue mediale bzw. filmische Repräsentationsform innerhalb des dokumentarischen und biographischen Films.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist der biographische Film das zentrale Element des Dokumentarfilms. Während der biographische Film traditionell versucht die private Sphäre des Dokumentierten auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit zu beziehen, entwickelt das Direct Cinema nun mithilfe neuer Filmtechniken und einer neuen Form der Repräsentation, „direkte Bilder“, die auf eine neuartige Weise filmisch dokumentiert werden. Die bis dahin vorherrschende Form des Dokumentarfilms ist der sogenannte „Erklärdokumentarismus“.
Je nach Ansatz entwickeln sich vor allem folgende Richtungen: das Direct Cinema in den USA, das Cinéma Vérité in Frankreich. Während das amerikanische Direct Cinema versucht, reales Geschehen aufzuzeichnen, ohne darauf in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, nämlich „life as it is“ zu filmen, verfolgt das französische Cinéma Vérité diesen Anspruch nicht, sondern versucht im Gegenteil mit den gefilmten Personen in Kontakt zu treten und dadurch eine offene Interaktion zwischen Filmemacher und den sozialen Akteuren entstehen zu lassen oder sogar die Situationen zu provozieren.
Neue Technik
Die neue Filmausrüstung setzt sich aus einer ganzen Reihe von technischen Erfindungen zusammen: den extrem leisen 16mm-Handkameras, die nun ohne sperriges Schutzgehäuse verwendet werden kann (Steady Cam), dem schweizer Tonbandgerät NAGRA, neuem hochempfindlichen Filmmaterial, das Aufnahmen ohne künstliches Licht ermöglicht, sowie dem Zoomobjektiv, das schnelle Ausschnittänderungen ohne zeitaufwendiges Objektivwechseln erlaubt.
Besonders Dokumentarfilmer profitieren von dieser Neuerung, da es nun möglich ist, in einer bis dahin ungekannten Flexibilität und Schnelligkeit auf das zu Filmende zu reagieren.
Die neuen Kameraausrüstungen ermöglichen die radikale Veränderungen in den
Aufnahmemethoden.
Konzept und zentraler Ansatz
Der zentrale Ansatz besteht also darin, in der filmischen Narration einen neuen Stil zu realisieren, indem man im Experimentieren eine „außerfilmische Authentizität“ und „subjektive Beteiligung“ (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.)) kohärent stilisieren. Man versucht das Soziale zu erzählen, ohne die filmische Repräsentation durch die Kamerapräsenz oder einen Kommentar im Voice Over zu stören. Die dargestellten Bilder werden mit Originalton unterlegt. Die Narration soll auf einen „natürlichen Höhepunkt“ zulaufen, dass sich sozusagen aus dem Erzählten selbst erschließt und einem Handlungsbogen, der in einem finalen Abschluss kulminiert. Ohne das durch die Darstellung führende Voice Over oder den dokumentarischen Kommentar, wird der Voyeurismus des Zuschauers geradezu Politikum der filmischen Repräsentation; Partizipation und ästhetisches und authentische Erlebnis. Die Partizipation des Publikums ist also erstmals zentraler Bestandteil der Dokumentation (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.)).
Zusätzlich zu der neuen Technik, der handlichen und tragbaren Kamera, die vor Ort das unmittelbar Geschehene festhalten kann, kommt der Anspruch, die Narration und die gezeigte Dokumentation so abzudrehen, „wie sie ist“ und die Anzahl der Schnitte (Cuts) innerhalb der Szenen so gering wie möglich zu halten, um den Handlungsfluss aufrechtzuerhalten. Weiterhin setzt man auf ein Minimum an Regie - die Geschehnisse, sowohl die zur Handlung gehörenden, wie auch die sich zufällig ergebenden, abzubilden, wie sie sich ereignen.
Konzertfilme
Don´t Look Back ist der erste Musikfilm (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.). Weitere Filme, die u.a. von Pennebaker produziert werden sind 1968 Monterey Pop, 1970 Woodstock und 1970 Gimme Shelter mit den Rolling Stones.
Dabei soll vermittels der Kameraeinstellung, Kameraführung und der Montage und Bildkomposition ein enges Zusammenspiel zwischen Sänger, der Band und dem Publikum des Konzertes erzeugt werden soll, in Form der Mobilisierung des Konzertpublikums bzw. dessen direkte Einbeziehung, wobei der Sänger als entweder „Protestsänger“, „Missionar“, „Poet einer Gegenkultur“ oder „Enfant terrible“ dargestellt ist und als Hauptfigur fungiert (vgl. R. Reichert in: Rebellische Musik, M. Leniger (Hg.).
Filmische und ästhetisch inszenierte Filmsequenzen sind mit „close-ups“, „over-the-sholder“ und Zoom verstärkt und umgesetzt. Dabei folgt die Umsetzung auch der für die Popkultur typischen Kommunikationsform des Körpers, abgesehen vom Genre immanenten Klang.
Was nun im Genre Konzertfilm unter dem Stichwort „uncontrolled cinema“ dargestellt wird, nämlich die unvermittelte Darstellung des Geschehens und der spontanen Ereignisse einzufangen, bewahrheitet sich nun während des Drehs zu Gimme Shelter auf eine zynische Art und Weise.
Nicht nur, dass der Film nach dem Mord in die Situation am Schneidetisch springt (extradiegetisch) und Mick Jagger zeigt, der die Szene immer wieder zurückspult, sondern auch die Tatsache, dass der Film nun, indem er einen Mord dokumentiert, wird das filmisches Dokument, Gegenstand realer polizeilicher Ermittlung. Gimme Shelter „funktioniert“ als reales Beweismittel in einem Mordfall, eine eigentlich gewollte filmische Strategie – die Dokumentation authentifizierter Wirklichkeit zu dokumentierten ist nun ungewolltes authentisches Evidenzmittel.
Die filmische Strategie der unvermittelten Direktheit der Bilder – „life as it is“ geht geradezu in der tatsächlichen Realität der Darstellung einer außerfilmischen Authentizität auf.
Zynisch und ungewollt erhält die Dokumentation von Altamont auch eine kulminierten Höhepunkt, der sich ohne eines Kommentars bedürfend, aus der Handlung selbst ergibt („Narration“ bis hin zu einem „ natürlichen Höhepunkt“).
Nachtrag für den Blog vom 30.11.08:
Literaturnachweis: Edda Holl, Die Konstellation Pop. Theorie eines kulturellen Phänomens der 60er Jahre, herausgegeben von den Instituten für Theater und Medienwissenschaft der Universität Hildesheim, Medien und Theater, Band 4 (1996).
Literaturnachweis für diesen Beitrag:
Ramón Reichert, Direct Cinema, Konzertfilm und Popular Music, in: Arnold Jacobshagen, Markus Leniger (Hg.), Rebellische Musik, Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968. Musicolonia, Band 1 (2007).
deluxe-enterprises.de - 4. Dez, 22:00